20. Dezember
4. Adventssonntag 2009
Die letzen Tage vor dem Fest kann ein Brief begleiten, der Erinnerung und Gegenwart von Menschen beschreibt, die miteinander auf dem Weg sind.
Ein Weihnachtsbrief an einen Freund:
Lieber Mensch an meinem Herzen!
Unser gemeinsamer Weg im vergangenen Jahr, mein lieber Freund, führt uns durch unseren gemeinsamen Advent, eine Zeit, in der wir wieder einmal gespürt haben, dass wir uns aufeinander verlassen können und doch Menschen sind, die sich ständig verändern, in die Erinnerung und Feier dessen, was wir diese “Heilige Nacht” nennen.
Nun sind wir wieder ein Jahr reicher an Erfahrungen mit und ohne Frust. Ein Jahr, das wir mit vielen anderen Menschen gemeinsam erleben durften und in dem wir auch viele neue Menschen kennenlernten und so reicher wurden um ein Lebensjahr unseres gemeinsamen Miteinanders. Vor uns nun diese besondere Nacht.
Diese Nacht, die angefüllt ist von Glanz, Licht, Freude und Jubel, die aber Trauer, Sehnsucht und das Elend vieler Menschen nicht vergessen macht. Diese Nacht, in der wir uns um ein Kind scharen werden, sein Lächeln erwidernd, nur uns selbst belügend der Radikalität seines Daseins entziehen können!
Diese Nacht, in der wir uns einer grenzenlosen Liebe gegenüber wissen dürfen. Diese Nacht weiß auch um dich, um deine Gefühle und Empfindungen, und um deine Geschichte. Denn der menschgewordene Gott nimmt dich, jeden anderen Menschen, unwiderruflich ernst. Sein Ja in dieser Nacht wird auch dir gelten. Begegnest du ihm, so wird er deine Hände nehmen, er wird dich anschauen, deine Worte hören – ganz gesammelt – kein Wort verlieren wollen, jedes in seinem Herzen bergen. Deine Geschichte, dein Gestern und dein Eben, bei ihm wirst du es lassen können, dich lassen, dich ihm überlassen. Dich ihm überlassen, mit all deinen Erinnerungen, Erlebnissen und Begegnungen, mit deiner Freude und deiner Enge, mit deinen Hoffnungen, den wachen und den längst begrabenen.
Dich ihm überlassen, mit den lieben und vertrauten Menschen, deinen Freundinnen und Freunden und denen, die dir nahe stehen, mit den Gesichtern, die jetzt vor deinen Augen Konturen gewinnen, den frohmachenden und den bedrückenden. Dich ihm überlassen, mit allem Neuen und Alten, mit deiner Größe und deiner Kleinheit, mit allem, was du bei dir trägst, dem Belastenden und dem Befreienden.
All dieses, das dich betrifft, bewegt oder zur Ruhe kommen lässt, wird auch in dieser kommenden Nacht zu dir gehören. Mach dich auf den Weg durch das Dunkel der Nacht zur Mitte dieser Heiligen Nacht. Lege dann beiseite, was deinen Blick verstellt, was dich betrübt, und lege die Früchte deiner Freude in deine Tasche und geh zur Krippe.
Du findest sie nicht im Trubel oder im Rummel, nicht dort, wo die meisten Menschen stehen, nicht, wo’s am Hellsten zu leuchten scheint. Nein, es ist alles sehr unscheinbar, ein unbekannter Ort, namenlos oder alle Namen tragend, ein Stall, eine Ecke, unter irgendeiner Brücke …
Du findest diese Krippe! Kleine Lichter spenden ihr Licht, sie scheinen als wollten sie Sterne sein. Die Stille wird dich anziehen, die Ruhe, die bis zum Überlaufen angefüllt ist mit Freude und Hoffnung.
Geh weiter, ja, geh mutig weiter! Die Alten und die Kinder, all die unscheinbaren Gestalten sind schon da! Stell dich zu ihnen!
Ihre Blicke flüchten nicht mehr in das Dunkel! Ihre Blicke und alles, was sie zu sagen in der Lage sind, diese Blicke, die je eine Lebensgeschichte bergen, diese Blicke ganz aufgeschlossener Menschen, trauen ihren Augen. Sie haben den Blick des Kindes gekreuzt, sie haben standgehalten, sich durchblicken lassen. Dunkelheit hat kaum Konturen, die einen Blick wirklich halten können. Die Blicke dieser Menschen brauchen den Schutz der Dunkelheit auch nicht mehr. Ihre Blicke sind gesammelt in den Augen eines Kindes, den Augen Gottes. In all ihrer Schwachheit, Kleinheit und Menschlichkeit, in all ihrer Größe und Einmaligkeit sind sie in den Blick genommen. Stell dich zu ihnen, stell dich dem Blick eines Kindes!
Keiner hat seine Zelte bei der Krippe aufgeschlagen, sie haben sich “anstecken” lassen, und was sie nun wieder nach Hause treibt, ist stärker als das Licht ihrer kleinen Lampen. Sie tragen ein neues Licht in ihren Herzen, und ihre Augen können und wollen es nicht verbergen. Wenn du nun, mein lieber Freund, zurückkehrst zu denen, mit denen du diese Heilige Nacht feiern möchtest, und wenn ihr euch dann gemeinsam an die schönen alten Zeiten erinnert, und wenn diese Menschen dir dann sagen: Wie früher, ganz der Alte, ja, du seiest ganz der Alte geblieben. Dann frage dich, mein lieber Freund, wann du, wann wir zuletzt bei der Krippe waren…
© Christoph Stender